Das halbe Leben ganz
Seite 211: Bücher abstauben
In unserer Familie zählten weder Kirche noch Partei, unsere Religion waren die Bücher. Denn von Büchern ging etwas Besonderes, fast Heiliges aus.
Jedenfalls waren das die Dinge, die besondere Aufmerksamkeit und Pflege bekamen, sogar regelmäßig abgestaubt wurden. Ja wirklich! Ich sehe uns als kleine Kinder noch jedes Jahr im Frühjahr stolz große Bücherstapel aus dem Zimmer meines Vaters und vor der Haustür unseres kleinen Reihenhauses ausklopfen. Das war gar nicht so einfach. Man hielt drei bis vier Bücher mit dem Bücherrücken nach oben zwischen den Händen. Eng aneinandergepresst musste jedes Buch einzeln so kurz aufgeschlagen und mit einem Knall wieder zusammengepresst werden, so dass der Staub herausfallen konnte. Ich beneidete meine meinen großen Bruder, der mehr als vier Bücher auf einmal auf diese Weise halten konnte. ...
Meine Mutter war in ihrem ersten Beruf Buchhändlerin und hatte noch drei enge Freundinnen aus dieser Zeit. So bekam sie immer die besten Bücher, deren Auflagen so gering waren, dass man sie nur als sogenannte Bückware bekam. Das heißt, sie standen nicht in den Regalen, sondern nur versteckt unter dem Ladentisch, und die Buchhändlerin musste sich bücken, um sie ihren Lieblingskunden zu verkaufen. Meist waren sie eingepackt, damit die anderen Kunden sie nicht sahen.
Tante Trautchen, eine ihrer engsten Freundinnen, war Kinderbuchlektorin und kam oft zu Besuch.Sie erzählte immer wunderbare Gute-Nacht-Geschichten, frei erfunden, wie wir glauben. Einmal schenkte sie mir, da ging ich erst ein Jahr in die Schule zum Geburtstag ein besonderes Buch. Jedoch war ich enttäuscht, es hatte wenig Bilder und den Text verstand ich auch nicht so richtig. Es war "Der kleine Prinz", bis heute eines meiner Lieblingsbücher...
offene ZEIT
Seite 13: Die Zeit ist aus dem Lot - Prosit!
Vier Sektgläser klingen miteinander. Es ist der Zeitpunkt X, um den sich alles dreht,
der 9. November 1989, etwa 21.00 Uhr.
Zum Glück gibt die spärlich gefüllte Vorratskammer noch eine Flasche Rotkäppchensekt her. Der kleine rote Fernseher Junost hat ein wackeliges Schwarz-Weiß-Bild, und wir schauen schon seit einer Stunde hinein – ungläubig, erstaunt – und reden alle durcheinander. So nach und nach wird uns die historische Bedeutung dieses Momentes (später spricht man vom Mauerfall) bewusst.
X minus eine Stunde – gibt es einen Anruf von der Tochter meines Partners, die in Berlin studiert: Papa, ihr müsst sofort den Fernseher einschalten, in Berlin ist was los, alle strömen zur Mauer.
Wir haben Besuch an diesem Abend, unerwartet und erfreulich. Denn Armin, der wegen versuchter Republikflucht seit reichlich einem Jahr im Gefängnis sitzt, nein saß, und seine Freundin aus Bautzen klingeln um 18 Uhr. Aus Büchsenfischsuppe und Schweineschmalzkonserven improvisiere ich ein Festmahl...